Zehn Absolventen der Berliner Artistenschule sind nun drei Monate lang und noch bis zum 22. September gemeinsam auf Tournee. In der insgesamt elften Absolventenshow zeigen sie, was sie auf dem Weg zum staatlich geprüften Artisten gelernt haben. Und überzeugen dabei durchweg mit guten Leistungen. Man darf also hoffen, dass sie sich schnell am artistischen Markt etablieren werden und ihre beruflichen Träume verwirklichen können. Ihre Darbietungen wurden von Regisseur Philipp Boë in einer längeren Probenphase in eine durchgehende Rahmenhandlung verpackt.

Unter dem Motto „Grammophobia“ wird auf einer Art Dachboden gespielt, einer Szenerie voller Kisten, Gerümpel und Möbelstücke. Hinzu kommt ein Grammofon. Als es zu Beginn der Show zum ersten Mal erklingt, tauchen überall zwischen den verstaubten Möbeln die Artisten auf und spornen sich gegenseitig zu artistischen Leistungen an. Sie merken erst im Laufe der Zeit, dass das unheimliche Grammofon stets die erste Geige spielen möchte und dringend gebändigt werden muss. Viele verschiedene Platten werden auf das nostalgische Gerät gelegt, und so zeichnet sich die Inszenierung durch musikalische Vielfalt aus. Leider ist die erste Programmhälfte mit allzu viel Rahmenhandlung und Tanz – bei aller Sympathie für „Cirque Nouveau“ – eindeutig überchoreographiert und damit reichlich anstrengend. Lediglich drei Darbietungen verteilen sich auf eine Dreiviertelstunde Programm. Wozu man gerechterweise sagen muss, dass verletzungsbedingt leider eine Nummer fehlt. Viel mehr Spaß macht dagegen die zweite Hälfte der Show mit vier artistischen Nummern und wesentlich strafferer Inszenierung.

Für den Auftakt sorgt Sebastian Stamm. Er ist ein Sonderfall im Ensemble. Schließlich ist er kein klassischer Absolvent, der in Berlin schulische und artistische Ausbildung kombiniert hat. Nein, Sebastian Stamm ist bereits 29 Jahre alt, war vor vier Jahren Halbfinalist bei „Deutschland sucht den Superstar“ auf RTL und wurde zwei Jahre später Deutscher Meister im Poledance. An der Berliner Artistenschule absolvierte er jetzt ein Gaststipendium. Seine Arbeit am Chinesischen Mast kombiniert er mit Breakdance-Elementen – einer Disziplin, in der der schon an Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Besonders spektakulär ist sein Vorwärtssalto, nach dem er sich wieder am Mast fängt. Wenn er am Ende seiner kraftvollen Nummer kopfüber am Mast nach unten saust und nur knapp über dem Boden stoppt, horcht das Publikum auf. So war es jedenfalls in der Vorstellung der Absolventenshow im Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté, die wir besucht haben.

Zweite Vertreter des Mast-Genres sind die „Three Funky Monkeys“, drei Artisten mit vietnamesischem, deutschem und brasilianischem Hintergrund, die alle in Berlin geboren und aufgewachsen sind. Toan Le, Ferenc Heinrich und Milu Chuh blicken dabei jedoch auf unterschiedliche Erfahrungen in Breakdance, Sportakrobatik und Circus zurück. Ferenc Heinrich ist übrigens ein Enkel der bekannten Raubtierlehrerin Christiane Samel, auch seine Eltern waren Tierlehrer. Die drei Mast-Artisten traten international auf und haben erfolgreich an Festivals und Meisterschaften teilgenommen. An der Berliner Artistenschule kreierten sie ihre Nummer als Trio. Gemeinsam und im Wechsel wird hier am Mast gearbeitet. Besonders originell: Toan Le klettert am Mast empor, während Milu Chuh auf seinem Kopf sitzt und die Füße auf den Schultern des Untermannes abstellt. Sehr erfreulich ist, dass der aktuelle Jahrgang der Berliner Artistenschule nicht nur Solisten hervorgebracht hat. Von einer großen, klassischen Schleuderbretttruppe, wie sie in der Rahmenhandlung dieser Absolventenshow kurz persifliert wird, sind wir leider immer noch entfernt. Immerhin gibt es aber das Mast-Trio und darüber hinaus ein Duo zu sehen. Mario Kunzi und Joschka Schneider zeigen eine heitere Partnerakrobatik mit vielen Hand-auf-Hand-Elementen, darunter auch Einarmer.

Bei der Absolventenshow vor zwei Jahren machte Andalousi Elakel mit seiner Handstandakrobatik auf einem Sessel auf sich aufmerksam und hat sich seitdem mit guten Engagements behauptet. Nun bekommt er sozusagen Konkurrenz aus der eigenen Familie, denn seine Schwester Anissa hat ebenfalls die Artistenschule abgeschlossen und ebenso eine Handstandnummer auf einem Sitzmöbel kreiert. Auf Andalousis Sessel folgt nun der Zweisitzer, zwischen dessen Lehnen Anissa auch einen Spagat zeigt. Bei ihrem Auftritt in hochhackigen, schwarzen Pumps setzt sie auf eine sinnlich-erotische Aufmachung.

Gute Laune auf dem Schlappseil demonstriert Nico Leist. Das Publikum ist schnell begeistert von der Nummer, in der zum Beispiel Keulenjonglagen, Schulterstand, Einradfahrt und Handstand auf dem schwankenden Seil präsentiert werden. Nachdem sich Trapezartist Moritz Haase leider schon am Tourneebeginn in Berlin einen Fuß gebrochen hat, muss die gesamte Absolventen-Tournee ohne ihn stattfinden. Die einzige Luftdarbietung steuert daher nun Mia Mattenklott bei. An den Strapaten zeigt sie unter anderem den freihändigen Spagat zwischen den Zwillingsschlaufen und vier Überschläge in Folge. So etwas wie der Paradiesvogel der Truppe ist diesmal Donial Kalex mit seiner lila gefärbten Mähne und Ziegenbart. Freilich fällt er nicht nur durch sein Styling auf, sondern jongliert vielmehr gekonnt Bälle mit Händen und Füßen.

Die Absolventenshow der Berliner Artistenschule hat in diesem Sommer fast 30 Spielporte auf dem Tourneeplan. Es ist schon eine bemerkenswerte Leistung, wie es den beiden Organisatoren Maik M. Paulsen und Jan van Aubel mit ihrem „Wundercircus – Büro für Varietékünste“ gelungen ist, dieses Veranstaltungskonzept so erfolgreich am Markt zu etablieren. Die Grundidee ist seit dem Start 2005 die gleiche: Alle frisch gebackenen staatlich geprüften Artisten können sich im Rahmen der Tournee bundesweit einem großen Publikum sowie Agenten und Direktionen aus dem Circus- und Varietébereich präsentieren und dabei Berufserfahrung sammeln. 2005 war Paulsen selbst noch einer der Absolventen, damals als Jongleur. Van Aubel kam 2007 hinzu. Die beiden umtriebigen Tourmanager haben wieder für eine professionelle Website mit hochklassigen Fotografien gesorgt. Im gleichen Design steht auch ein gedrucktes Programmheft zur Verfügung. Und für die Regie und Choreographie wurde mit Philipp Boë erneut ein renommierter Regisseur gewonnen, auch wenn wir uns – wie gesagt – in der ersten Programmhälfte weniger Inszenierung und mehr Artistik gewünscht hätten.

 

Text: Markus Moll
Foto: Tobias Erber